Die Meermaid
Eine Erzählung,
basierend auf einem wahren Erlebnis mit einer Meerjungfrau
von
Wilhelm Mrsic
(Aus: Mensch und
Schicksal. Zeitschrift für geistige Bereiche,
Büdingen-Gettenbach, Jg. 11.1957, Nr. 11 - S. 1-30)
Vorbemerkung
Manchen Menschen sind Erlebnisse vergönnt, die über jegliches rationale Verstehen hinausgehen - Erlebnisse, bei denen vor allem die Welt der Gefühle eine besonders große Rolle spielt. Dies gilt besonders dann, wenn sie Begegnungen mit Wesen betreffen, an deren bloße Existenz viele Menschen nicht einmal glauben. Ein Mensch, der solche Begegnungen hatte, war Wilhelm Mrsic. Er gab uns Kunde darüber nicht in Form eines Berichts, sondern kleidete das Erlebnis in die Form einer Erzählung. In diesem Rahmen hängte er zugleich dem Ganzen eine Art moralischen Mantel um - was keineswegs heißen soll, dass auch dieser besagte Teil des Textes nicht durchaus der Wahrheit entsprechen könnte. In jedem Fall aber gibt Mrsic hier einen tiefen Einblick in die Tiefen seiner Seele, und wie er selbst damit umging.
Eine ergreifende Geschichte von der Berührung mit einer anderen Welt, Versuchung, Liebe und Erlösung durch eine Frau.
Ich entdeckte den Text, wohl kaum per Zufall, in einer alten esoterischen Zeitschrift namens "Mensch und Schicksal". Lange Zeit schlummerte er in verstaubten Bibliotheksregalen, nun ist er erstmals im Internet! Mögen die LeserInnen sich an seinem Zauber erfreuen!
Jede Nacht fuhr Marko, der Fischer, hinaus aufs
Meer, um seine Schnüre auszulegen mit den vielen Haken. - Marko war arm, er
hatte keine Netze; aber er hatte seinen ehrlichen Namen und seine von Eltern
und Großeltern überkommene Bestimmung, war frei, jung und selbständig. Was
braucht ein tüchtiger Fischer mehr? - Wohl waren seine Eltern tot, und Marko
hatte es nicht leicht sich durchzubringen. Doch er liebte das Meer und die
Fische, diese lebenden Runen der Tiefe, zu denen es ihn immer wieder hinauszog,
und er hätte gar nichts anderes sein mögen als ein Fischer.
Die erste Hälfte der Nacht war
Marko mit seinem kleinen Kahn meist hinter den behäbigen Barken der Netzfischer
her wie eine Möwe, die solange späht und kreist, bis etwas für sie abfällt;
denn er brauchte kleine, blitzende Sardinen als Köder für seine Haken und die
konnte er sich nicht selber fangen. Er musste zusehen, dass er bei der reichen
Ernte der großen Netze ein paar Harnen voll mit abschöpfen konnte. -
Gespensterhaft ging es in solchen Nächten auf dem Wasser zu und wer da meint,
im Mondenschein läge das Meer still und verlassen da, der täuscht sich sehr,
überall in den Buchten und zwischen den schwarzen Wällen der Inseln blinken
große und kleine Lichter auf, hallen Rufe und Gegenrufe über die dunklen Wasser
und begegnen sich die Boote, auf denen schwarze Gestalten im Fackelschein
herumgeistern, Netze auslegen, Ruder und Steuer führen und sich weithin Zeichen
geben. Lieder schweben durch die Nacht und Saitenspiel, Segel flattern im
leichten Wind und die Wellen flüstern und murmeln. Wie goldene Ketten ziehen
sich die Lichter der Barken da und dort um eine Bucht. Näher und näher rücken
sich die funkelnden Glieder, bis dann endlich, wenn schon Mitternacht über das
Meer gebreitet liegt, ein silberner Sardinenschwarm umstellt ist und sich die Netze
um ihn zusammenziehen. Im großen Bogen umsperren sie eine felsige Bucht und
treiben das plätschernde, lebendige Silber dem Ufer zu. Wie ein Hexenkessel
sprüht und spritzt dann das Wasser. Silbern perlen und quirlen die Wasser,
silbern flimmern die springenden Fische und silbern flutet das Mondlicht über
weiße, betaute Felsen, über Wellen, Boote und Fang. - Und die erregten Stimmen
der Fischer auf den im Umkreis gedrängten Fahrzeugen schwirren durcheinander
wie die wirren Schreie hungriger Vogelschwärme.
Auf solche Augenblicke wartete
Marko und mit ihm eine ganze Schar anderer Angelfischer. Flugs drängten sie
sich mit ihren kleinen Kähnen herbei und schöpften aus dem silbernen Segen, -
nicht von dem, was innerhalb der Netze zappelte, das gebührte ihnen nicht, -
aber von dem schier unübersehbaren Strom, der da seinen Weg über, zwischen und
unter den Netzen fand und das Weite suchte, da konnten sie nehmen, soviel jeder
brauchte, ohne Schaden für irgendwen und ohne den silbernen Überfluss zu
schmälern, der da zurückströmte in die ewige und unerschöpfliche Schatzkammer
des Meeres.
Dann besteckte Marko seine
Haken. Über zweihundert waren an einer Schnur. Jede Schnur war eine Meile lang
und lag fein säuberlich in Klängen geordnet in einem Korb, über dessen Rand wie
ein Kranz die Haken hingen. Bald waren alle mit Ködern versehen und Marko
ruderte hinaus auf das dunkle Meer, das fast reglos dalag und sich nur wie
leise atmend unmerklich hob und senkte.
Marko kannte die Fischgründe
gut. Dort warf er den großen Kürbis aus, der ihm später anzeigen sollte, wo
seine Schnur lag, verankerte ihn mit einem schweren Stein und ließ dann langsam
rudernd die mit dem Ankerseil verbundene Schnur ins Wasser sinken bis sie,
ihrer ganzen Länge nach ausgelegt, sich über den Meeresboden hinzog und
schließlich ein zweiter Kürbis am Ankerseil ihr Ende festhielt und kenntlich
machte.
Wenn so die drei Schnüre
versenkt waren, die Marko besaß, und er sich die Stellen am Ufer genau
eingeprägt hatte, auf die er zuhalten musste, um seine Kürbisbojen am Morgen
wiederzufinden, dann streckte er sich zufrieden auf dem Boden seines Kahnes
aus, schlief ein wenig oder sah in die Sterne. Es waren die bangsten Stunden
der Nacht, die zwischen Mitternacht und Morgengrauen, die er so verträumte.
Ganz heimlich war ihm dabei nie zumute. Nie wusste er recht, ob er wachte oder
schlief. Tiefes Blau war um ihn, samtdunkles Blau, ob er nun die Augen schloss
oder offenhielt, und Stimmen waren da, die raunten und riefen, und er wusste
nicht, ob das aus seinem Innern kam oder ob es die Meermaid war, die sang. -
Fischer sind anders als andere Menschen. Sie sehen und horchen in die Tiefe, in
jene Tiefe, die unerschöpflich ist und rätselvoll, die hinabzieht und reich
macht zugleich und in der man so leicht vergehen und sich verlieren kann. -
So konnte auch Marko sich
nicht satt sehen am Blau der Nacht und sich nicht müde hören am Lied der Tiefe.
Das drang zu ihm herauf wie Orgelton, wie Harfenklang oder ferne Glocken,
unfassbar und doch überall. - Dann wieder war es wie fernes Grollen, wie das
leise Brodeln im Kessel, wenn man Wasser zu sieden beginnt, wie dumpfe
Trommelwirbel verzückter Urwaldvölker beim Opferfest.
Marko liebte dieses Singen der
Tiefe. Er hätte immer so liegen und lauschen können, umschauert von den Lauten
der Namenlosen, gerufen von der Stimme der Stille - und doch war er froh, wenn
der Tag anbrach. Wie aus einem Bann erwachte er dann und atmete befreit und
erleichtert den frischen Morgenwind. Er fühlte wohl, dass es gefährlich war,
der Tiefe zu lauschen. Wacker griff er in die Ruder und spähte in die Runde
nach seinen Kürbisbojen. Seine scharfen Augen hatten sie bald entdeckt und nun
ging es ans Aufholen der Schnüre: Immer wieder war es für Marko ein Hochgefühl,
so aus der Tiefe zu schöpfen, nie wissend, was da zutage kam, immer von neuem
hoffend, von neuem erregt von der Leidenschaft, das Ungewisse zu locken, zu
überwältigen und zu zwingen.
Wenn sich die Leine straffte
und eine fremde Kraft sich da unten wehrte und wuchtete, wenn der kämpfende
Fischleib, mit dem ersten metallischen Blitzen im dunklen Wasser aufzuckte,
seine Fluchten die Schnur hin und her rissen und in die Finger schnitten, dann
schlug Marko das Herz wilder und seine Lippen wurden bleich. Seine Spannung
löste sich erst, wenn die um sich schlagende Beute an der Oberfläche erschien
und schnell vom Handnetz unterfangen ins Boot gehoben ward. - Bald war es ein
Wolfsbarsch mit weitem, gefräßigem Rachen, dann wieder ein armdicker Aal, der
sich um die Leine wand und fast den Haken abdrehte. Brassen kamen zutage mit
messerscharfem, geblecktem Gebiss und dornige, hässliche Seeskorpione mit
klaffendem Krötenmaul und giftigen Stacheln. Da wurde Marko warm vor Eifer und
er lachte zufrieden wie er so Fisch auf Fisch ins Boot hob.
Recht wohl war ihm aber doch
erst, wenn er die Schätze, die er wieder einmal dem Meere abgejagt hatte, alle
geborgen in seinem Kahn wusste, die Schnüre sämtlich eingeholt und verstaut
waren und er beim ersten Strahl der Morgensonne heimwärts fuhr, dem kleinen
Dorfe zu, das wie ein Nest an den Felsen der Küste klebte. Da fühlte er sich
dann frei und froh im hellen, flutenden Licht und um die letzten Schatten zu
verscheuchen, sang er aus voller Kehle. - Jeden Morgen sang er und immer war es
das gleiche Lied:
„O
schönste Frau, ich kenn’ dich nicht
Und bin bei dir doch jede
Nacht
Wenn mich dein Wellenhaar
umflicht,
Bin ich verfallen deiner
Macht.
O schönste Frau, ich nenn’
dich nicht
Und liebe dich doch namenlos,
In deiner Tiefe stirbt das
Licht,
Mein Schicksal stirbt in
deinem Schoß.
O schönste Frau, ich kenn’
dich nicht,
Ich träume, wenn dein Lied
erklingt.
Unfassbar ist dein Angesicht,
Und wer dich liebt, in dir
versinkt.
Der Morgen graut, und ich bin
frei,
Weil deinen Armen ich entrann.
Und sehne doch die Nacht
herbei,
Da ich in dir vergehen kann.“
Weit übers Meer klang Markos
Lied und betörte so mancher Schönen im Dorf das Herz, denn jede glaubte, es
gälte ihr.
Auch Aurelia hörte es, die
junge Magd, wenn sie am frühen Morgen am Fenster ihrer Stube stand und aufs
Meer hinausblickte. Sie war schön wie der junge Tag und galt als das
lieblichste Mädchen weit und breit. Ihre Augen waren blau wie der Himmel und
ihr blondes Haar leuchtete wie die Sonne, Ein lichter Schein umstrahlte Antlitz
und Gestalt und von ihr ging die Sage, ihr Herz und ihr Haar seien aus purem
Gold.
Jeden Morgen stand sie an
ihrem Fenster und horchte aufs Meer hinaus, bis Markos Lied erklang. Dann
schlug ihr Herz hart und rasch, dass es fast schmerzte und war schwer von
goldenen Träumen, von Sehnsucht und heimlicher Liebe.
„Wenn es nur mir gälte, sein
Lied“, wünschte sie wieder und wieder. „Wenn es nur mir gälte, wie wäre ich
froh!“
Aber Marko blickte nie zu
ihrem Fenster hinauf, wenn er in seinem Kahn vorüberfuhr. Ihn hielt nicht das
Traute. -
Das Unbekannte zog ihn an, das
Unergründliche. Er sang sein Lied dem Meer, der Tiefe, dem Namenlosen und
Unbestimmten, das uns alle lockt, das wir mit jedem neuen Tag so sehnlich
suchen und noch sehnlicher mit jeder Nacht. -
Da war dann Aurelia oft sehr
traurig, weil sie für ihre Liebe keinen Weg sah, und wenn sie abends bei ihrer
alten Muhme in der Spinnstube saß, kamen ihr manchmal die Tränen.
„Weinst du schon wieder,
Aura“, sagte dann die Muhme mit ihrer leisen zittrigen Stimme, die schon wie
aus dem Grabe klang. „Weinst du schon wieder, wozu nur? Deine Tränen bringen
ihn dir nicht.“
„Ach, ich liebe ihn doch so
sehr, er aber weiß es gar nicht. Was soll ich nur tun, dass er mich
wiederliebt?“ Schluchzend fragte sie es wieder und wieder.
Die Muhme aber gab ihr immer
das Gleiche zur Antwort: „Hilf ihm tragen, Aura! Hilf ihm tragen!“
Aurelia verstand das nicht.
„Was soll ich ihm nur tragen helfen“, dachte sie, ihm, der alles so leicht
nimmt, ihm, den das Meer trägt in seinem Boot. Er hat doch gar nichts zu
tragen!“ -
Zeit verging. - Morgen für
Morgen kehrte Marko vom Meere zurück und immer waren seine Körbe voll. Selbst
wenn alle anderen Fischer leer heimkamen, Marko brachte immer reichen Fang.
„Das geht nicht mit rechten
Dingen zu“, brummten die alten Fischer. „Marko steht mit dem Bösen im Bund.
Zwanzig Jahre und mehr stellen wir unsere Netze, kennen jeden Platz und unser
Fang bleibt schmal. Er aber legt nur ein paar Schnüre aus und fängt mehr als
wir alle. Das sieht ein jeder, dass da etwas nicht stimmt.“
Wenn Marko solche Reden hörte,
dann lachte er bloß, als dächte er sich nichts dabei, nannte die Alten wohl
auch abergläubisch. Insgeheim aber machte er sich doch Gedanken: „Ob die
Fischer recht hatten? Ob wirklich etwas nicht mit lauteren Dingen zuging? War
es vielleicht doch die Meermaid, die sang, während er träumte? Wem aber galt
ihr Gesang? Am Ende ihm? - Marko kam nicht mehr los. Er nahm sich vor, besser
aufzupassen und dem Gesang der Tiefe nachzuspähen.
Nichts aber ließ sich blicken,
wenn er nachts den Kopf über die Bootswand streckte und hinunter ins Wasser
sah, und selbst das Singen verstummte, sobald er nicht wie schlafend auf dem
Boden seines Kahnes lag.
Da sann Marko auf eine List.
Heimlich schnitt er aus dem Boden seines Kahnes ein Fenster heraus, kittete
eine dicke Glasplatte in die Öffnung, brachte einen dicht schließenden Rahmen
darüber an, dass kein Wasser hindurchdringen konnte, und fuhr dann wie immer
zum Fange aus. Als die übliche Zeit des Feierns heranrückte, die bangen Stunden
um Mitternacht, streckte er sich wie gewöhnlich ins Boot und stellte sich
schlafend. Dabei aber hielt er die Augen ein wenig offen und spähte durch das
Fenster im Boot hinunter ins Meer. - Er brauchte nicht lange zu warten. Die
Tiefe sang...
Von allen Seiten klang das
herauf, unfassbar mild und voll. Ein weiches, lockendes Tönen hüllte ihn ein
und schwang mit ihm, als sei er Teil der Flut. Immer stärker drängten die Töne
herzu und wie er sie so trunken und entrückt mit allen seinen Sinnen aufnahm,
da war es ihm plötzlich, als verdichte sich etwas im Wasser ganz nahe vor
seinem Blick.
Ein Gesicht tauchte auf,
flimmernd und wogend wie aus lauter Wellen, unendlich zart, unfassbar rasch und
unsagbar schön, die unterirdischen Linien wie verwischt und doch so
eindrucksvoll, dass Marko wusste, er würde sie nie mehr vergessen. Seine Augen
durchbohrten wie süchtig die Flut, um mehr zu erhaschen, um dieses flüchtige
und berückende Wesen zu bannen, festzuhalten diesen leise geöffneten,
klangverhauchenden Mund, diese flirrenden Goldaugen, das flutende, blaue Haar
und diese entgleitenden Züge, in denen Schreck und Zorn wie ein Nu aufzuckten
und verwehten. Aber Marko vermochte es nicht. Als er schärfer hinsah nach der
zarten Erscheinung, da zog sie rasch die Brauen auf der glasklaren Stirn
zusammen, als habe sie ein leichter Schmerz getroffen, und das Bild verschwamm.
-
Von jener Nacht an war Marko
verändert. Er trug ein Bild in sich, dem er seine Kraft lieh und das immer mehr
von ihm Besitz ergriff. Sein Morgenlied, das bisher immer so leicht und frei
erschollen war, hatte nun einen verlangenden, wunschvollen Klang, der Sehnsucht
und Träume wachrief und die Sinne begehrlich machte.
Voll Bangen horchte Aurelia an
ihrem Fenster auf dieses verwunschene Lied. Heißer noch flossen ihre Tränen und
ihr Herz war schwer von Liebe und Leid.
Aber Marko hatte kein Auge für
sie. Er nährte in sich das entschwundene Bild seiner Sehnsucht und verfiel
seinen Lockungen mehr und mehr. Nächtelang lag er im Boot und starrte durch das
Glasfenster in die blaue Tiefe, um wieder jene berückende Erscheinung zu
erspähen oder er lauschte, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet, ihrem
lullenden Lied. Aber er war zu verwirrt. Es wollte ihm nicht mehr gelingen,
sein Wunschbild zu schauen. -
Da spannte er Saiten in seinen
Kahn, die mitschwangen, wenn die Meermaid sang. So konnte er wenigstens besser
inne werden, was ihr Lied versprach. Wie auf einer Harfe erklangen die Saiten
im Kahne und Marko verging fast vor Sehnsucht, wenn er an die Planken
geschmiegt ihren Tönen sich hingab. Von Begehren sangen sie und Wunscherfüllen,
von Verlorensein im namenlosen Reich, von schicksalsfernem Sein und vom
Versinken in Lust und Traum.
Marko kannte sich nicht mehr,
und er beschloss es zu wagen und die Meermaid zu rufen. Das war nicht leicht,
denn er wusste ihren Namen nicht. So blies er auf einer Muschel und ahmte die
Klänge ihres Liedes nach, diese begehrlichen, verlorenen Klänge, die er so
liebte, als seien sie sein Geschöpf.
Da erschien sein Wunschbild in
der Tiefe ganz ferne flimmernd und fließend und ihm doch so bewusst wie ein
gehauchtes Spiegelbild.
„Warum rufst du mich?“ fragte
das Bild. „Ich kann nicht zu dir.“
„Ich liebe dich“, hauchte
Marko, „ich kenne dein Lied und trage dein Bild in mir. Nun sage mir noch
deinen Namen, damit ich dich ganz begreifen und dich rufen kann, so oft ich
will!“
„Ich habe keinen Namen“, klang
es zurück. „Wir Wesen der Tiefe sind namenlos“.
„Aber wie kann ich dich dann
rufen, wenn du keinen Namen hast?“
„Rufen kann mich nur, wer
dabei in mir vergeht.“
„Das will ich ja“, beteuerte
Marko. „Nichts wünsche ich mir so sehr als das.“
„Aber du kannst es nicht, denn
du. hast einen Namen, der dich bestimmt. Solange du eine Bestimmung trägst,
kannst du nicht vergehen. Wenn du mich aber willst, musst du mich namenlos
lieben.“ -
„Und du, liebst du mich denn
auch?“ fragte Marko etwas verzagt, denn es schien ihm doch sehr viel, was die
Meermaid verlangte.
„Ich warte schon lange auf
dich. Glaubst du, ich hätte dich stets so reich beschenkt mit meinen Gaben,
wenn ich dich nicht begehrte? Wen wir Wesen begehren, den beschenken wir, und
wen wir beschenken, den lassen wir nicht mehr los.
Du fragst, ob ich dich liebe,
Marko. Wie soll ich das wissen? Ich begehre dich. Mein Begehren ist tief und
unergründlich wie das Meer. Vergehe in mir, dann wirst du es inne werden!“
„Lieber schon möchte ich dich
besitzen“, meinte Marko. Das schien ihm sicherer, denn er wusste nicht, dass
man den Wesen der Tiefe auch verfällt, wenn man sie emporholt. „Gibt es denn
gar kein Mittel, dich zu mir emporzuziehen? Ich möchte dich doch so gerne erst
einmal ganz aus der Nähe sehen und in meine Arme schließen, bevor ich für immer
dein werde.“
„Emporziehen kannst du mich
für ganz kurze Zeit und auch das nur, wenn du ein Opfer bringst.“
„Nenne es mir“, rief Marko,
„ich will es gerne bringen, wenn ich dich nur einmal ganz erschauen und
umfassen darf.“
„Gold“, raunte die Meermaid,
„opfere mir Gold! Gold hat große Macht. Gold vermag alles!“ -
Marko war etwas erschrocken.
Wo sollte er Gold hernehmen? Er war arm. Das Einzige, was ihm einfiel, war ein
Ring, den sein Vater stets getragen und ihm hinterlassen hatte als Angebinde
und letztes Andenken. Sollte er den hingeben?
Aber Markos Verlangen war
größer als alles andere Fühlen in ihm und er zögerte nicht lang:
„Gut, ich will dir Gold
opfern“, versprach er. „Wann soll ich es bringen?“
„Wann du willst, Marko. Nur
lasse es eine blaue, mondlose Nacht sein, denn wir Wesen der Tiefe scheuen das
Licht.“
Das Bild der Meermaid zerrann.
Der Morgen graute. Marko zog seine Schnüre ein. Kaum konnte sein Boot die Beute
fassen. Aber sein Lied klang wie verweht und Aurelias Herz schlug bang, als sie
es hörte und kaum mehr verstand. -
In der nächsten mondlosen
Nacht fuhr Marko hinaus. Er trug den Ring seines Vaters bei sich. Als die
Schnüre ausgelegt waren, schlug es gerade Mitternacht und Marko hielt in der
Mitte der Bucht, dort, wo er zuletzt die Meermaid gesehen hatte.
Am Himmel funkelten die
Sterne. Die Nacht war blau und still. Nur ein zartes Glitzern zitterte auf dem
Wasser. Marko war beklommen zumute. Beim unruhigen Flackerschein seiner Fackel
zog er den breiten, schweren Goldreif hervor und betrachtete ihn zum
letztenmal. Da sah er, was ihm bisher nie aufgefallen war, dass auf dem Ring
der Name seines Vaters eingegraben stand, derselbe Name, mit dem auch er
gerufen wurde. -
Marko erschrak. War er nun dem
Begehren der Meermaid doch nicht entronnen? Schickte er nicht zugleich mit dem
geopferten Gold auch seinen Namen in die Tiefe?
„Trag ihn, wie ich ihn
getragen habe, in Ehren!“ hatte der sterbende Vater gesagt, als er den Ring
seinem Sohn an den Finger steckte. Heute erst wurde Marko bewusst, dass damit
auch sein Name gemeint war.
Immer musste Marko auf die
geprägten Zeichen sehen, diese Formel, mit der er aufgerufen wurde aus der Welt
der Vielen, aus dem All. Sollte er diese Bestimmung opfern?
Da erlosch die Fackel. Matt
schimmerte das Gold in Markos Hand. Die Buchstaben hatte die Nacht
verschlungen. -
Die Meermaid sang. - Die
Saiten im Boot erklangen. Berauschender als je fluteten die Töne um den Kahn.
Marko erlag ihnen bald. Wunschverloren, selbstvergessen und verlockt wendete er
die Hand und der Ring fiel hinab. Marko blickte ihm nach, wie er sank und
verschwand, ausgelöscht und vertilgt in lichtloser Tiefe. - Es war ihm, als
habe er seine Bestimmung verloren, als der Ring mit seinem Namen versunken war.
- Namenlos - träumte er oder war es wahr? War er dem Begehren der Meermaid zu
willen gewesen? - „Und wenn auch“, suchte sich Marko zu trösten, „liebe ich sie
denn nicht namenlos? Wenn ich auch wirklich meine Bestimmung verloren habe, war
es nicht immer schon das Unbestimmte, das mich anzog?“
Voll Erwartung pochte sein
Herz. Nun musste ja die Begehrte kommen. Er hatte sein Opfer gebracht, ja,
sogar mehr gegeben, als versprochen war. Markos Verlangen wuchs und alle
Bedenken vergingen. Unverwandt blickte er in die Tiefe, wo das Gold versunken
war und wo nun die Ersehnte erscheinen sollte.
Das Wunschbild erstand in
ferner Bläue, erst flüchtig und fließend, dann aber nahm es Gestalt an und
gewann mehr und mehr Eigenleben. Langsam stieg es empor wie aus Schatten
geboren. Golden wie Sterne flimmerten die unwirklichen Augen und das zarte
Gesicht verging fast in dem blauen Haar, das so dunkel war, dass Marko nicht
sehen konnte, wo seine Wellen endeten in der schwarzen Flut des nächtlichen
Meeres. Weit beugte er sich über den Rand des Kahnes hinaus, berückt von dem
zarten, medusenhaften Zauber des Gebildes.
Näher und näher zur
Wasseroberfläche stieg die Gestalt, tauchte empor und zwei weiße Arme legten
sich um Markos Hals. Diese Arme waren weich und kühl wie Schnee. Haupt und
Schultern und zwei wogende Brüste schimmernd wie Perlmutter hoben sich aus der
Flut und Marko hielt einen Leib umschlungen, schlank und glatt und dabei so
weich, so zart und so kosend wie Meeresschaum.
„Hebe mich nicht weiter
empor“, bat die Meermaid. „Ich muss zur Hälfte im Meer bleiben. Die Sterne
strahlen zu hell, es ist zu viel Licht. Ich würde nicht mehr zurückfinden, wenn
du mich ganz aus dem Meere nähmst.“
Marko tat, was die Meermaid verlangte.
So blieb sie bis zu den Hüften vom Meere umspült. - Er hatte auch so schon
genug zu bestaunen, konnte sich nicht satt sehen an ihren Wunderaugen, der
traumhaften Farbe des Haares und dem Schimmern der Haut.
„Wie kann man nur goldene
Augen und blaue Haare haben?“ dachte er noch und dann vergaß er auch das und
versank ganz in ihren Anblick. Da sah er in ihr Inneres wie in unendliche
Tiefen hinab. Es war wie ein Verlöschen im Nichts. War es so dunkel, weil es
tief war oder schien es so tief, weil es so dunkel war? - Die Nacht war es, die
ewige, schädigende Nacht, aus der wir alle einmal gekommen sind. Ein
Vergangensein war es, aus dem der Entrückte erst wieder erwachte, als die
singende Stimme der Meermaid erklang.
„Du hast mich gerufen mit
deinen Gaben, da bin ich nun. Was willst du von mir?“
„Dich“, seufzte der Fischer
verloren, „dich, nur dich!“
„Mich“, tönte die Meermaid,
„mich kannst du nur finden, wenn du dich verlierst.“
„Habe ich nicht meinen Namen
von mir geworfen, wie du verlangtest und meine Bestimmung verloren, um dich
rufen zu können?“ klagte der Fischer. „Was willst du noch mehr? Lass mich nun
endlich dein Los mit dir teilen!“
„Wir Wesen der Tiefe haben
kein Los. Schicksallos sind wir wie die Nacht. Du aber hast ein Schicksal.
Solange du das erfüllst, kannst du nicht in mir aufgehen. Löse dich von ihm,
löse dich von allem, was dich bindet und hält! Gib dein Los zurück, dann wirst
du in mir deine Lösung finden“, klang mystisch die Antwort.
Den Fischer schwindelte. Ein
Wirbel tat sich vor ihm auf, der ohne Ende war.
„Wie soll ich denn mein
Schicksal verlieren“, dachte er und es war ihm unheimlich zumute.
„Zögere nicht Fischer, der
Morgen graut, ich muss hinab!“ drängte die Meermaid und küsste ihn kühl und
lind, so wie eine Schneeflocke warme Erde küsst und vergeht.
„Komm doch lieber du morgen
nacht wieder zu mir herauf“, bat Marko. Ihm schien das sicherer, denn er wusste
ja nicht, dass wir den Wesen der Tiefe auch dann zu Willen sind, wenn sie uns
dienen.
„Hast du noch Gold?“ fragte
die Meermaid, „nur dann kann ich kommen.“
„Noch Gold? Warum? War denn
das Gold nicht gut, das ich dir heute gab?“
„Doch, es war gutes Gold, wenn
ich auch die hässlichen Zeichen, die darin eingegraben sind, erst werde tilgen
müssen, denn die kann ich nicht ertragen.“
„Warum soll ich dann wieder
Gold geben, wenn ich dich herauf rufen will?“
„Nur Opfer können uns Wesen
der Tiefe emporheben, merke dir das! Opfer, immer neue Opfer, denn jedes Opfer
ist nur für einmal genug.“
Der Fischer kämpfte mit sich.
Er besaß nur noch einen einzigen Gegenstand aus Gold, ein goldenes Kreuz, das
seine Mutter zeitlebens getragen hatte, und das ihm als letztes Vermächtnis von
ihr geblieben war. Sollte er es zum Opfer bringen? -
Der Morgen graute und die
Meermaid sank, sank unaufhaltsam tiefer und tiefer in das blaue, unfassbare
Dunkel hinab.
Marko litt, litt den
zehrenden, trostlosen Schmerz, ein geliebtes Wesen sinken zu sehen, haltlos und
ohne Ziel, unabänderlich und rettungslos. -
„Opfern will ich“, rief er ihr
nach, „opfern, alles, was du verlangst, um dich wieder zu mir emporzuziehen,
einmal noch, ein einziges Mal!“
„Lass es eine dunkle Nacht
sein!“ klang es leise herauf. „Nächstens, wenn der Mond verfinstert ist, dann
ist die rechte Zeit.“
Die Meermaid war verschwunden.
Marko zog seine Schnüre ein. Fisch auf Fisch wanderte in den Kahn. Es wollte
schier kein Ende nehmen. Langsam ruderte der Fischer die schwere Last der Küste
zu. - Leise ertönte sein Lied, er wusste kaum, dass er sang. War er es
überhaupt noch oder sang das Meer aus ihm? Er war wie verzaubert. Verloren und
haltlos irrten die Töne über das Meer wie vom Wind zerstreut. Kaum fanden sie
ihren Weg. -
Zu Aurelias Fenster drang nur
selten noch ein verwehter Ton. Traurig stand sie und ihre Hoffnung schwand,
dass er je den Blick zu ihr erheben und sein Lied ihr weihen möchte, wie sie es
doch so sehnlich wünschte. Schwerer und schwerer wurde ihr goldenes Herz. Immer
und überall klang ihr Mar-kos verstörtes Lied in den Ohren und wenn sie abends
bei der Muhme in der Spinnstube saß, konnte sie ihren Tränen nicht wehren.
„Weinst du schon wieder,
Aura“, mahnte die Muhme. „Deine Tränen bringen ihn dir nicht. Tragen musst du
ihm helfen, dann wird noch alles gut.“
„Was soll ich ihm denn tragen
helfen“, verzagte Aurelia hoffnungslos, „was denn, was denn nur?“
„Das Leben, Aura, das Leben,
das unsere Mütter unter ihrem Herzen trugen, das trage weiter für ihn wie ein
heiliges Feuer, das nie erlöschen darf. Uns Frauen, uns ist seine Obhut
anvertraut.“
Aura verstand das nicht. Sie
wusste nur dass sie liebte, und Liebe versteht nur das, was sie umfasst.
Marko indessen wusste von
dieser Liebe nichts. Seine Tage waren leer und einsam und nur ein Warten auf
die Nacht. Seit er seine Bestimmung geopfert hatte, lebte er wie ziellos dahin.
Wohl riefen ihn die Menschen noch mit dem Namen seines Vaters und er wusste,
dass sie den damit meinten, der er einmal gewesen war, aber sie riefen ihn
damit nicht mehr wie früher auf aus dem Reich der Vielen, aus dem All. Er
zählte dort nicht mehr mit. Der Name hatte seine Bedeutung verloren. Sein
einstiger Träger war vergangen im Unbestimmten, an das er sich hingab, indem er
es rief. Marko war haltlos geworden und unfassbar. Auch die anderen empfanden
das und begannen ihn zu meiden. Für Marko aber hatte nur eines noch Sinn, die
Stunden nach Mitternacht, wenn er im Kahne lag und die Meermaid sang. Denn sie
besang nun ihn. Ihr Lied war er und wenn er sie rief, rief er sich - und
verging. Nie hatte der Fischer geahnt, dass Vergehen solch eine Wonne ist.
Nichts ersehnte er mehr als die Nacht der Finsternis, in der er nach dem Geheiß
der Meermaid das zweite Goldopfer darbringen sollte, um sie in seine Arme empor
zu holen und sein namenloses Verlangen in ihr zu stillen.
Als endlich diese Nacht
gekommen war, da nahm er das goldene Kreuz, das seine Mutter ihr Leben lang
getragen und ihm einst in ihrer Sterbestunde geschenkt hatte. Es hing an einem
schmalen weißen Band. Das legte er um seinen Hals, barg das Kreuz an seiner
Brust und ruderte dann aufs Meer hinaus wie sonst, um seine Schnüre zu
versenken. Nur sein Herz war beklommen und bedrückt. Das Kreuz lag schwer
darüber, als sei es mit ihm verwachsen. Immer wieder musste Marko an seine
Mutter denken, an ihren letzten Segenswunsch, mit dem sie ihm einst in ihrer
Sterbestunde das Kreuz überantwortet hatte. „Nimm es hin“, hatte sie gesagt,
„ich habe es für dich getragen, möge es dir dafür leichter sein!“ Heute erst
verstand er diese Worte recht. Er wusste, dass sein Schicksal damit gemeint war
und er erschrak, denn er wurde gewahr, dass seine Opfer Sinn hatten, Sinn, der
in seltsamer Weise dem entsprach, was die Meermaid verlangte. - Einen goldenen
Ring hatte er opfern wollen, um die Tiefe zu rufen, und seinen Namen hatte er
damit hingegeben. Mit einem goldenen Kreuz dachte er sich die Erfüllung seines
Sehnens zu erkaufen und nun war sein Schicksal damit verknüpft. Gewollt hatte
er das sicherlich nicht, - aber vielleicht gewünscht. Wusste er denn überhaupt,
was er wünschte? Marko erschauerte. Dunkel erahnte er, dass die Tiefe, die er
liebte, unerbittlich war. -
Unheimlich rot wie mit Blut
überzogen stand der verfinsterte Mond am Himmel und die Sterne flimmerten und
zuckten wie verzagt in der dunklen Nacht. Marko saß lauschend in seinem Boot.
Die Tiefe rief - oder rief er sie? Er wusste es nicht mehr, war er doch
namenlos.
Wie im Traume nestelten seine
Hände an dem weißen Band, das das Kreuz seines Schicksals trug, aber sie fanden
die Knüpfung nicht. Da zerriss er das Band mit Gewalt und das Kreuz glitt ins
Meer, sank und verschwand. Dann schloss er die Augen. Wie entwurzelt kam er
sich vor, abgeschnitten vom Strom des Lebens, dessen Sinn er verloren hatte.
Da wallten die Wogen auf und
wiegten den Kahn mit sanfter, unwiderstehlicher Macht. Marko ließ sich treiben.
Was hielt ihn noch? Nichts denken wollte er mehr und nichts mehr sein, nur
warten, warten bis die Tiefe sich auftat, sich ihm erschloss, ihn aufzunehmen
in ihr Geheimnis.
Leise schäumten die Wogen und
sprühten Gischt. Der dunkle Duft von Moder und Tang umwölkte ihn und deckte ihn
zu. Wie im Traume schlug er die Augen auf. Da waren die blauen Haare der
Meermaid über ihm und ihr Gesicht wie gehauchtes Glas, ihre flimmernden
Goldaugen. Schmeichelnde Kühle ging von ihr aus und das Kosen ihrer Arme war
wie Tau. Sie saß über Marko gebeugt auf dem Rande des Bootes. Er sah die zarten
Knospen ihrer Brüste, ihre schneeige Haut, die bis zu den Hüften glatt und
glänzend war wie Perlmutter und dann in kleine, flimmernde Schüppchen überging.
Das Ende ihres Flimmerleibes verlor sich im Wasser.
„Komm ganz zu mir ins Boot!“
bat Marko, den ihr Zauber umfing.
„Das darf ich nicht“, sagte
die Meermaid. „Es ist zwar dunkler als das letzte Mal, doch so finster nicht,
dass ich mein Reich verlassen kann. Aber trotzdem sollst du in meinen Armen
ruhen für diese Nacht. Nun, da du kein Schicksal mehr zu erfüllen hast, kannst
du mich erfüllen und ich dich in meiner ganzen unermeßlichen Weite und Tiefe.“
Ihre Stimme klang wie ein Schlummerlied und sie beugte sich noch weiter herab
und zog ihn an sich, dass sein Haupt an ihrer Brust geborgen lag und ihr Körper
ihn zart umfing, zart und kühl wie Schnee. Weich und wohlig hob und senkte sich
diese Brust mit sanfter, unwiderstehlicher Macht wie die Wellen, die Markos
Kahn wiegten, wie das Meer in der Macht des Mondes, wie das Weltall, das sich
ausdehnt und wieder zusammenballt in unermesslichen Zeiten. An diesem Busen lag
Marko und horchte in ihn hinein, in die Stille, die so groß ist, dass sie
dröhnt und rauscht, so wie der Muschel hohle, Schale, die wir ans Ohr halten,
dröhnt und rauscht und doch leer ist, nichts birgt als die Stille des Todes. -
Durchsichtig; war diese Brust. Marko blickte in sie hinab und doch sah e nichts
als Dunkelheit und Nacht, denn ihre Tiefe war unermesslich und unabsehbar.
„Verlangt dir nach mir?“ fragte
die Meermaid in diese Nacht hinein.
„Ja“, sagte Marko, „aber ich
habe Furcht. Ich kann dein Herz nicht sehen und nicht erfühlen, wie soll ich
wissen, ob es für mich schlägt.“
„Mein Herz kann nicht für dich
schlagen. Ich habe keines. Mein Herz ist der Mond.“
„Wie soll ich aber dann zu dir
finden und dich gewinnen, wenn du kein Herz hast?“ fragte Marko verzagt.
„Du musst dich verlieren, wenn
du mich finden und gewinnen willst“, raunte es aus der Tiefe.
„Habe ich nicht schon genug
verloren, um dich zu erringen: Namen und Bestimmung, Schicksal und Lebenssinn!
Nun musst du mir gehören, ich will dich besitzen“, forderte Marko.
Im Grunde seiner Seele aber
hatte er Angst vor dem Begehren der Meermaid.
„Mich kannst du nicht
besitzen. Nichts darf dir gehören, besitzlos musst du werden, wenn du mich
willst.“ Sie entglitt seinen Armen. „Beeile dich Marko, entschließe dich! Ich
muss hinab, bald graut der Tag.“
„Bleibe doch bei mir!“ bat
Marko voll Inbrunst. „Ich will dich hochhalten und zu dir stehen mein Leben
lang!“ „Für mich gibt es keinen Halt, noch kannst du zu mir stehen, entgegnete
die Meermaid. „Du musst mir verfallen, wenn du mich begehrst. Versinken musst
du mit mir und in mir und dich ganz verströmen.“
„Ich habe den Mut nicht“,
zögerte Marko. „Hole doch du mich hinab!“
„Dazu ist es zu spät“,
verneinte die Meermaid. „Es wird schon hell. Meine Macht geht zu Ende. In einer
ganz dunklen Nacht, wenn der Himmel voll Wolken hängt, dann rufe mich, dann
kann ich es tun. Aber du musst mir noch einmal Gold liefern, viel Gold, damit
ich ganz auftauchen, dich umschlingen und auf immer hinabziehen kann zu mir in
mein Reich.“ „Noch mehr Gold“, wiederholte Marko erschrocken. „War es nicht
gutes Gold, das ich dir opferte? Lass es doch genug sein!“
„Das Gold war gut, wenn auch
die Form, in die es geprägt ist, mir nicht gefällt. Ich kann sie nicht leiden.
Nun, die Tiefe wird sie schon tilgen. Wenn du aber willst, dass ich ein drittes
Mal emporkommen soll, und zwar ganz, um dich zu holen, dann musst du noch viel
mehr opfern. - Deinen Namen hast du gegeben, um dich rufen zu können, dein
Schicksal, um von mir erfüllt zu sein, nun gib dein letztes Gold und alles, was
dir gehört, damit du mein werden kannst für immer!“
„Ich habe dir alles Gold
gegeben, das mir gehört, nun habe ich keines mehr“, klagte Marko.
„Doch“, drängte die Meermaid,
und ihre Augen flimmerten. „Dir gehört noch ein wahrer Schatz, nur weißt du es
nicht. Du kannst darüber verfügen, musst es nur wollen. In eurem Dorfe lebt ein
Mädchen, das hat goldene Haare und ein goldenes Herz. Sie ist dir schon lange
in heimlicher Liebe zugetan. Es wird dir nicht, schwer fallen, sie zu
überreden, dass sie in einer dunklen Nacht mir dir aufs Meer kommt. - Opfere
sie! Dann kann ich kommen und dich holen, mich mit dir vereinen ohne Rest.“
„Ich kann doch keinen Menschen
opfern“, schauderte der Fischer.
„Warum nicht? Sie gehört doch
dir! Will dir gehören. Du musst sie sogar opfern, gerade weil sie die Deine
ist, denn solange etwas dir gehört, kannst du nicht mein sein und in mir
aufgehen.“
In Markos Denken drehte sich
alles wie ein quirlender Wasserschlund. Hatte die Meermaid recht? War es seine
Schuld, dass ihm das Mädchen mit dem goldenen Herzen gehörte, ohne dass er es
gewusst und gewollt hatte? Besitzlos sollte er sein, um der Tiefe zu gehören.
Hatte er nicht ein Recht, all seinen Besitz dahin zu geben für das einzige
Glück, das es für ihn noch gab? Konnte er nicht auch über das verfügen, was er
ungewollt besaß, noch dazu, da es seinen Wünschen im Wege war?
Schon schwankte er, schwankte
wie sein Kahn, den die Tiefe trug. Da graute der Tag und die Meermaid versank.
Hilflos zerging ihr Bild. -
Wir sollten keine Wesen
lieben, die aus der Tiefe kommen, denn wir halten sie nicht damit und helfen
ihnen auch nicht empor. Unhemmbar sinken sie wieder, wie oft wir sie auch
emporziehen und mit wie großen Opfern. - Ihr Sinken aber zerrt auch an uns und
wir hängen ihnen nach oder sie ziehen uns mit. -
Marko zerriss fast das Herz,
als er die Geliebte so sinken sah. „Ich will es tun“, rief er ihr nach, „alles,
was du verlangst, nur komme noch einmal herauf!“
„Ja“, rief die Tiefe, „aber
tue es bald und lass es eine ganz dunkle Nacht sein ohne Mond und ohne Sterne!“
-
Marko war ganz verzaubert. Er
zog seine Schnüre ein und wusste kaum, dass er den Kahn bis zum Rande mit
Fischen füllte. Langsam ruderte er der Küste zu im Morgenlicht. Sein Lied
erklang. Sang er es oder sang die verwehte Nacht?
Bang und erwartungsvoll wie
eine letzte Frage, ein letzter Wunsch schwebte das Lied zum Ufer hin. Diesmal
aber, zum ersten Mal, sandte der Fischer dabei einen langen heischenden Blick
zu Aurelias Fenster hinauf. -
Aurelia traf dieser Blick
mitten ins Herz.
Sie blieb am Fenster und sah
voll Liebe auf Marko, wie er anlegte, ans Ufer sprang und begann, seine Körbe
auszuladen. Übervoll waren sie alle mit Fischen und Marko stand eine Weile
unschlüssig, weil er kaum wusste, wie er all diese Fülle allein bewältigen und
zum Marktplatz tragen sollte.
Als Aurelia das sah, da fielen
ihr die Worte ihrer Muhme ein und sie lief hinab und trug ihm ihre Hilfe an:
„Du hast es heute schwer, Marko. Darf ich dir tragen helfen? Ich tu es gern.“
Marko nickte. Er erschrak
fast, dass sie es ihm so leicht machte. Da wand Aurelia flink die blonde Fülle
ihrer Haare zu einem weichen Kranz, hob mit starken, jungen Armen den
schwersten Korb empor und setzte ihn auf das goldene Geflecht. Dann schritt sie
vor ihm her zum Markt mit dem stolzen, wiegenden Gang jener Frauen, die gewohnt
sind, Bürden nicht auf gekrümmtem Rücken, sondern erhobenen Hauptes zu tragen.
Ihre Gestalt war immer wie in Licht getaucht und ihre Umrisse waren hell wie
von einer leuchtenden Flut, die aus ihr strahlte. -
„Es ist nicht recht, was ich
tue“, dachte Marko und doch ließ er es geschehen, dass sie ihm half und sagte
ihr freundliche Worte dafür, als die Arbeit getan war.
„Du bist ein wackeres Mädchen,
Aura, ich könnte dich öfter brauchen. Ich fange so viel und weiß kaum mehr, wie
ich’s allein schaffen soll. Willst du nicht einmal abends mit mir zum Fang
hinausfahren?“
„Doch Marko, ich möchte
schon“, sagte Aurelia und sie musste sehr an sich halten, dass sie ihre Freude
nicht zu offen zeigte. „Aber sieh doch, der Himmel hängt voller Wolken. Die
Nacht wird sehr finster sein.“
„Fürchtest du dich etwa?“
lachte Marko, „die dunklen Nächte sind immer die besten, gerade da hab’ ich
Hilfe nötig.“
„Wenn du mit mir bist, fürchte
ich mich nicht“, antwortete Aurelia vertrauensvoll. „Sag’ mir nur, wann ich
kommen darf!“
„Heute abend, sobald es dunkel
wird. Nimm dir aber eine Decke mit, denn es ist oft kühl im Kahn.“ Marko sagte
das bloß so nebenhin, aber Aurelia war glücklich darüber, dass er so besorgt um
sie war, und sie ging fröhlich heim, fest entschlossen, am Abend mit ihm zu
fahren.
Sie konnte es kaum erwarten,
und als die Nacht anbrach, nahm sie ein seidenes Tuch um den Kopf und eine
weiche Decke über den Arm und lief zum Strand. Marko hatte eben seine Schnüre
geordnet. Er nickte Aurelia freundlich zu, hieß sie einsteigen und stieß dann
vom Ufer ab. Es war eine schwüle, dunkle Nacht. Schwere, schwarze Wolken hingen
tief am Himmel. Sie bewegten sich kaum. Südwind kroch über das Wasser, schlaff
hingen die Segel der Fischerboote, und das Meer lag wie tot.
Müdigkeit drückte auf Herz und
Glieder. Marko war froh, dass ihm Aura half. So waren sie bald fertig mit
allem, und Aurelia wickelte sich in ihre Decke und legte sich am Boden des
Kahnes schlafen. Sie schlief wie ein Kind.
Er saß da und sann.
In schweren Schwaden zog der
Südwind über ihn weg. Marko fühlte sich schwach und matt. Was sollte er tun? -
Er hatte sich dem Unbestimmten ergeben, war ohne Halt. Sein Leben hatte keinen
Sinn mehr, nur noch ein Trachten: hinab in die Tiefe! - Dort in der
Unergründlichkeit musste der Urgrund sein, Stille und Stillung, Rausch und
Rauschen, Lösung von allem Los.
Marko horchte hinab, aber
alles war still wie ein banges Warten. Nur Aurelias Atem schwebte sanft durch
das Boot wie ein Lied des Lebens.
„Das ist es, was den Sang der
Tiefe hemmt“, dachte Marko. Solange Aurelia atmet, singt meine Meermaid nicht.
Ich muss Aurelia opfern, die Tiefe harrt.“ - Er beugte sich nieder und nahm das
schlafende Mädchen auf seine Arme. Wohlige Wärme ging von dem schlanken,
schlaftrunkenen Körper aus und umhüllte Marko wie Flaum. Nie hatte er gedacht,
dass es so wonnig sein könnte, ein schlafendes Menschenkind in seinen Armen zu
halten. Es wurde ihm schwer ums Herz und er schloss die Augen, als er sich mit
seiner Last erhob. Da war es ihm, als sähe er in weiter Ferne den Geist seines
Vaters. Es schien als bewege er die Lippen, um seinen Namen zu rufen, wie er
das oft im Leben getan hatte, vorwurfsvoll warnend und doch voll Güte. Aber
Markos Name blieb ungerufen. Er hatte ihn nicht mehr. -
Der Fischer erschrak. Er warf
Aurelia nicht ins Meer, wie er es vorgehabt hatte, presste ihren Körper fester
an sich, wusste selbst nicht warum.
Da schlug das Mädchen die
Augen auf. „Marko, was ist? Brauchst du etwas von mir?“
„Nein“, fasste Marko sich
schnell, „nein, schlafe nur! Es ist nichts. Ich wollte dich nur weicher
betten.“
„Du Guter“, flüsterte Aura,
legte den Kopf an seine Brust und schlief gleich wieder ein.
Wie lieb sie war und voll
Vertrauen. Sie forderte nichts. Sein war sie, das war ihr genug.
„Gerade das aber darf nicht
sein“, dachte Marko, „das hemmt ja mein Glück. Ich muss sie opfern, wenn ich in
der Tiefe aufgehen will.“ Noch einmal schloss er die Augen. Er musste es tun.
Aber da sah er in weiter Ferne die Gestalt seiner Mutter schweben. Sie streckte
die Hände nach ihm, die müden, guten Hände, die ihn im Leben so oft vom Bösen
zurückgehalten hatten. Doch die Hände erreichten ihn nicht. - Machtlos war die
verhärmte Gestalt, denn er trug ihr Kreuz nicht mehr. -
Wieder erschrak der Fischer,
wieder zog er den schlanken, schlafenden Leib an sich, anstatt ihn von sich zu
stoßen.
„Brauchst du mich, Marko?“
flüsterte Aura aus tiefem Schlaf. „Ist es schon Zeit?“
„Nein, Aurelia, es ist nichts,
ich wollte dich nur etwas wärmen“, beruhigte der Fischer. „Schlafe nur! Du
kannst noch lange schlafen.“
„Du Lieber“, lächelte Aurelia
und vergrub den Kopf noch tiefer in seinen Arm.
Marko stand unschlüssig da und
sah in die Nacht. Da wurde er gewahr, dass sie schon verblich. Im Osten graute
der Morgen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Hart fasste er Aurelias zarte
Gestalt und hob sie hoch.
„Brauchst du mich, Marko, so
sage es doch!“ Groß sahen ihn Aurelias erstaunte Augen an. Einen Augenblick war
sie zu früh erwacht.
Marko setzte sie wieder
nieder. „Ja, Aura, ich brauche dich. Es gilt mein Glück. Dein Opfer brauche
ich. Du musst ins Meer! Es gibt kein Zurück. Wehre dich nicht!“ Aurelia strich
sich das Haar aus der Stirn, als scheuche sie böse Gedanken und süße Träume
fort. Wissend und traurig sah sie ihn an, aber ohne Hass. „Ich liebe dich,
Marko“, sagte sie schlicht. Du bist mein Leben. Alles kannst du von mir
verlangen, auch den Liebestod. Nur eines bitte ich dich: Lass mich nicht für
dich sterben, noch bevor ich für dich habe leben dürfen. Ich bin noch so jung,
fast ein Kind, habe noch nicht einmal alle Freuden der Liebe genossen. Eine
Nacht nur, eine einzige Nacht lass mich in deinen Armen ruhen und dir ganz
gehören! Dann will ich gerne für dich sterben, dann will ich es selbst für dich
tun, damit du keine Sünde begehen musst.“
Marko schwieg. Er war tief
betroffen. Nie hatte er geahnt, dass es soviel Liebe gab, unverdiente,
bedingungslose Liebe. - Dieses Mädchen da lebte und starb für ihn wie eine
Flamme, die aus ihm sich nährte und durch ihn erlosch. Sie hatte ihn nicht
einmal gefragt, warum er sie opfern wollte. -
„Du bist sehr gut, Aura“,
sagte er mit abgewandtem Gesicht, denn er war beschämt. „Mich aber musst du für
schlecht halten. Ich kann dir das alles nicht so erklären. Deinen Wunsch aber
will ich erfüllen. Komm in der nächsten stillen Nacht zu mir!“
„Ja“, hauchte das Mädchen,
„aber schlecht bist du nicht, das weiß ich, auch, wenn du mir nichts erklärst.“
„Lass es aber eine ganz dunkle
Nacht sein, damit niemand es sieht, wenn du zu mir kommst“, bat Marko noch,
denn er dachte an das Gebot der Meermaid. -
Dann sprachen sie nichts mehr.
Sie half ihm nur beim Einziehen der Schnüre und danach ruderten sie zur Küste
und luden die Beute aus. Als alles getan war, ging Aurelia heim. Sie war sehr
müde. Nun erst wusste sie, wie schwer es ist, einem geliebten Menschen zu
helfen. -
Der Tag war grau. Wolken,
regenschwere Wolken trug der Südwind heran und die Nacht kam bald, ebenso
schwül und dunkel wie die Nacht vorher.
Aurelia pochte an Markos Tür,
und er löschte das Licht und ließ sie ein. Er sah sie kaum, fühlte nur, wie ihr
Dasein den ganzen Raum mit Liebe erfüllte. Ihre Hüllen fielen im Dunkel und ihr
Duft umgab ihn und sie streute ihre Küsse über ihn aus wie Blütenregen. Dann
lag sie in seinen Armen in zeitlosem Glück und es war ihm, als höre er ihr Blut
rauschen, das hohe, starke und reine Lied ihres Lebensstromes. Es war ihm, als
sei ihre Brust durchsichtig und er sähe darin ihr Herz erstrahlen wie lauteres
Gold. „Ich gehöre dir“, strahlte dieses Herz und „ich kreise um dich“, rauschte
das Blut.
„Und deine Liebe“, fragte
Marko, „ist sie auch tief und unergründlich wie das Meer?“
„Meine Liebe hat nichts
ihresgleichen, denn sie umfasst nur dich“, war ihre Antwort.
„Willst auch du, dass ich in
dir versinke?“
„Ich wünsche mir, dass du mich
zu dir erheben mögest und nicht, dass du in mir versinkst.“
„Und bist auch du
schicksallos?“
„Mein Schicksal bist du,
Marko.“
„Was verlangst du von mir?“
„Nichts. Ich gehöre dir.“ -
Dann schwiegen sie. Nur ihre
Hände glitten über sein Haar, ihr Herz pochte und ihre Brust hob und senkte
sich leise.
Da überkam Marko, den jungen
Fischer, eine große, gütige Ruhe und er schlief über ihrem Herzen ein. -
Doch wie er so an ihrem Busen
schlief, ihr zugetan für eine kurze Stunde der Nacht, da erglühte ihr goldenes
Herz. Wie eine Sonne brannte es in ihrer Brust, dass sie es kaum mehr ertragen
konnte. Sie bettete seinen Kopf in die Kissen und schritt hinaus, dem Meere zu.
Sie wusste, dass für sie die Zeit des Opfers gekommen war. Noch nie war ihr
goldenes Herz so schwer gewesen wie jetzt, da es glühte in lodernder Liebe und
voll Schmerz der Trennung und des Verzichts.
Aber Aurelia schritt tapfer
durch die finstere Nacht zum Strand, dem Wasser zu, das schwarz und weich über
den Sand leckte und die Felsen umschwoll. Sie stürzte sich nicht hinein, sie
ging ins Meer. Ihr Herz war so schwer, dass ihre Füße den Boden nicht verloren,
auch als sie tiefer und tiefer in die Fluten stieg, und seine Glut war so groß,
dass das Wasser um sie zurückwich und sie dahinschritt wie in einer gläsernen
Gruft.
Aus ihrem Herzen aber strahlte
ein heller Schein und leuchtete ihr auf ihrem Weg. Tiefer und tiefer schritt
sie über Hügel von Schwämmen und Wälle stachliger Seeigel, über nachtschwarze
Klüfte und Spalten, durch die bunten Wiesen der Pflanzentiere und die
Purpurwälder der Hornkorallen, durch die Gärten der Röhrenwürmer, die ihre
Kiemen entfalten wie Blumen, scharlachrot, malvenfarben, blau, gelb und grün. -
Klaffende Höhlen und Grotten taten sich auf, um sie irre zu führen. Tang und
verstrickende Algen legten sich ihr in den Weg. Große Krabben mit unheimlichen Teufelsmasken
krochen auf sie zu. Aber Aura ging weiter auf der Bahn, die das leuchtende Herz
ihr wies, unbeirrt von dem Zauber, den Nacht und Meer um sie ausgossen.
Da zuckten Quallen vorüber wie
Schmetterlinge und hauchzarte Ruderschnecken trieben vorbei wie Schneeflocken.
Durchsichtige Garneelen und opalene Saphirkrebschen geisterten durch die Flut.
Schwarze Kraken mit langen Fangarmen und großen, klugen Augen wechselten vor
Zorn die Farbe und wurden ziegelrot. Draußen aber, in der Weite der blauen
Nacht, schwebten die Fische in allen Gestalten und Farben wie Gedanken und
Träume des Meeresgottes. Fetzenfische wie flatternde Feuergarben, Haie,
aufgeblasenen Drachen gleich, giftige Muränen mit grellen Farbenmustern, blaue
Papageifische mit grünem Gebiss, Meerengel mit Fledermausflügeln, Kugelfiische
und Seepferdchen und kleine durchsichtige Aale mit schillernden Augen. -
Wer da stehen bliebe, um all
diese Wunder zu fassen, der stünde noch heute und wäre erstarrt. Aber Aurelia
blieb nicht stehen. Ihr schweres, goldenes Herz glühte und trieb sie vorwärts,
sie wusste selbst nicht wohin, ging nur den Weg, den sein Strahlen ihr zeigte,
bis es ihr selber Halt befahl. Da erst sah sie auf, betroffen von dem seltsamen
Bild, das sich ihr darbot.
Auf einem Pfühl von Perlen und
Korallen und purpurnen Schwämmen als Kissen lag die Meermaid mit großen
grüngoldenen Traumaugen und flutendem, blauen Haar. Ihr zu Häupten schwebten
Laternenfische und gössen ein mildes, blassgrünes Licht über die silbernen
Schüppchen ihres schlanken Leibes. Um sie wedelten die Fühler großer, roter
Seeanemonen wie Zweige eines Baumes im Winde. Riesige Fächerkorallen neigten
sich schirmend ihr zu und über ihr pulste blaugrün und durchsichtig eine große
Qualle wie ein lebender Baldachin. Im Hintergrunde aber verwoben sich Scharen
und Schulen farbiger Fische zu buntgemusterten Teppichen flutenden Lebens.
Die Meermaid sang. - Es klang
wie ein leises Raunen von Liebe und Tod, wie fernes Brausen verwehten Sturmes,
wie das zirpende Flüstern zerspringender Perlen schäumenden Weines in einem
edlen Glas. Wer dieses Lied hörte, verlor sich selbst. - Aura hörte es nicht.
In ihren Ohren dröhnte das heiße Blut, das ihr glühendes Herz durch ihre Adern
jagte. Sie stand wie im Traum, wie in einer Wolke von Glut und Licht. Das
strahlende Gold ihres Haares umflammte sie wie eine Lohe, so dass die Augen der
Meermaid darin aufschimmerten und begehrlich wurden.
„Wie kommst du hierher?“
fragten diese Augen.
„Marko, der Fischer, hat mich
gesandt“, antwortete Aurelia. „Er wollte dieses Opfer von mir, und ich brachte
es dar.“
„Du kamst von selbst?“
„Ja, ich hab’ es für ihn
getan.“
„Wie kann man etwas für andere
tun?“ dachte die Meermaid. Sie verstand das nicht. - „Willst du noch mehr für
ihn tun?“ fragte sie weiter, denn das Gold von Aurelias Haar stach ihr mit
seinen Strahlen in die Augen und ließ ihr keine Ruhe.
„Alles, was ich vermag“, sagte
Aurelia schlicht.
„Dann gib mir das Gold deines
Haares! Du hilfst damit seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen.“
„Nimm es hin, für ihn ist mir
kein Opfer zu groß!“ Mit diesen Worten tauchte Aurelia ihr Haar in die
Wasserwand, die sie umgab und die Meermaid griff hastig danach. Aber das Gold
blieb ungelöst und unbenetzt blieb das strahlende Haar.
„Über Gold haben wir keine
Macht“, klagte die Meermaid enttäuscht, „es hat nur Macht über uns.“
„Liebe hat über alles Macht“,
entgegnete Aura fest und sie raffte ihr Haar zusammen und preßte es an ihr
glühendes Herz. Da schmolz das Gold dahin und tropfte ins Meer. Aurelias Haar
aber wurde bleich wie Flachs.
„Du kannst Gold schmelzen“,
staunte die Meermaid, „o, das ist gut“, und sie holte den Ring hervor, den ihr
Marko geopfert hatte, und zeigte ihn Aura: „Diesen Ring gab mir Marko. Sein
Gold ist gut, aber es sind hässliche Zeichen darin eingegraben, die ich nicht
ertragen kann. Dabei ist das Gold so hart, dass ich sie nicht daraus zu löschen
vermag. Willst du es mir schmelzen?“
Aurelia nahm den Ring und
erkannte Markos Namen und ihr Herz wurde noch schwerer und glühte noch mehr,
weil zu der Liebe noch heißer Schmerz kam. Sie hielt den Ring an ihr
rotloderndes Herz und er zerrann. Der Name aber, der darauf stand, prägte sich
in ihre Brust. - Wie sie nun so seinen Namen in ihrem Busen trug, da stieg die
Glut ihres Herzens noch höher an und es strahlte weiß.
Die Meermaid fühlte, wie diese
Glut wuchs. „Es fehlt nicht mehr viel“, dachte sie, „dann ist das goldene Herz
so heiß, dass es selber schmilzt und sein Gold ist mein. Ich will seine Glut
noch mehr schüren“, und sie nahm das Kreuz, das ihr Marko geopfert hatte, als
er sie das zweite Mal heraufrief, und hielt es Aurelia hin: „Sieh dieses Gold,
auch das hat er mir dargebracht. Es ist gutes, edles Gold, aber in eine Form
geprägt, die ich nicht leiden mag, und so hart, dass ich sie nicht tilgen kann.
Schmilz es mir, es wird Marko zugute kommen!“
Aurelia nahm das Kreuz, und
ihr Herz zog sich zusammen in Kummer, Liebe und Leid. So schwer wurde es und
sein flammendes Feuer so heiß, dass es kaum mehr zu ertragen war. Sie hielt das
Kreuz an die weiße Glut und es zerging. Seine Form aber schrieb sich in ihre
Seele ein.
Wie sie nun das Los seines
Namens in ihrem Busen und das Kreuz seines Schicksals in ihrer Seele trug, da
ward die Glut ihres Herzens wie die einer Sonne und sein Gold schmolz dahin und
kreiste in Auras Blut, dass ihr war, als würde sie verzehrt.
Da brach die Meermaid rasch
den Ast eines Korallenstockes ab und schnitt mit der scharfen Zacke eine feine
Wunde in Auras Brust dicht über dem Herzen. Dort sickerte nun das geschmolzene
Gold hervor, aber es erstarrte nicht, sondern zerging in den Fluten, die sich
mehr und mehr um Aura schlossen, denn ihr Herz schlug nun schwächer und
schwächer und seine Glut ließ nach.
Als nun immer mehr von
Aurelias heißem Herzensgold zerging, da begannen mit einem Mal um sie her die
Wasser des Meeres zu leuchten. Es war, als werde das Meer von seinem Grunde her
von einer Sonne durchglüht. Jeder Fisch zog eine glitzernde Straße hinter sich
her. Die Wedel der Röhrenwürmer, die Fühler der Krebse, die Arme der
Seeanemonen, alles, was sich regte, war in eine Lichtflut getaucht. Durch die
dunkle Nacht der Tiefe breitete sich ein milder Schimmer aus. Weit und breit
funkelte das Meer im Goldrausch.
Geblendet und ganz verwirrt
hielt die Meermaid die Augen zu.
Sobald aber der letzte
glühheiße Tropfen des flüssigen Goldes Aurelias Körper verlassen hatte, wurde
ihr wunderbar leicht ums Herz und sie begann zu schweben, höher und höher, bis
sie über den Spiegel des Meeres emportauchte. So leicht war sie, dass sie sogar
auf dem Wasser zu gehen vermochte und auf seiner Oberfläche dahinschritt, als
sei sie fester Grund. So schwebte sie dahin, der Küste zu, eine lange, stille
Nacht hindurch auf den leuchtenden Fluten des Meeres, die trunken waren von
ihrem Blut.
Marko, der Fischer, schlief
indessen tief und sanft in seiner Kammer. Erst als die Uhr Mitternacht
geschlagen hatte, war er erwacht. Er sah, dass er allein war und er wusste,
dass Aurelia Wort gehalten hatte. Da fühlte er, dass er mehr verloren hatte als
sich selbst. Aber er wandte sich ab von der Leere, die sich vor ihm auftat und
eilte zum Strand. Es war eine finstere Nacht. Marko machte sein Boot los und
sprang hinein, stieß es ab und griff in die Ruder. Nun war die Stunde da, wo
sie ihn holen konnte, die Tiefe, die Unergründlichkeit für immer.
Als er aber die Ruder ins
Wasser senkte, da flammte die Flut. Wie in flüssiges Weißgold getaucht, gleißte
und glitzerte das schlichte Holz. Das war nicht mehr das tote, schwarze Meer
von gestern. Jeder Ruderschlag trieb flimmernde Wellen über die Oberfläche und
die herabfallenden Tropfen leuchteten auf wie Sternschnuppen. Eine breite,
goldene Bahn zog der Kahn hinter sich her und als sich dann noch ein leichter
Wind erhob, da erglänzte das ganze Meer weithin in grüngoldenem Schein.
Marko, der in das Dunkel wollte,
er schwamm in Licht.
Da konnte die Meermaid nicht
empor, denn das Licht hielt sie ab und brach ihre Macht.
Wie er auch rief und spähte,
stumm lag um ihn das goldene Meer, leuchtend in der dunklen Nacht und keine
Meermaid tauchte aus ihm empor, kein weicher, kühler Arm schlang sich um seinen
Hals, um ihn hinabzuziehen in die schweigende, selbstvergessene
Unergründlichkeit. -
Da fühlte Marko, dass er alles
verloren hatte: Namen, Schicksal und Liebe. Traurig ruderte er heim durch die
Zaubernacht und wusste nicht, dass er mit jedem Ruderschlag achtlos Aurelias
Herzblut vergoss, das sie für ihn geopfert hatte. -
Er ruderte die ganze Nacht und
als er an die Küste kam, da war es schon heller Tag. Am Ufer aber stand Aurelia
in der Morgensonne wie verklärt, rein und durchsichtig, wie er sie noch nie
gesehen hatte. Sie war schöner als je. Nur das Gold ihrer Haare war
verschwunden. Sie waren bleich und weich wie Flachs und spielten im Wind.
Marko erschrak bei ihrem
Anblick. Wo kam sie her, die er tot im Meere wähnte?
„Warum stehst du hier im
kühlen Morgenwind?“ fragte er bang.
„Ich warte auf dich“, sprach
sie mit weicher Stimme und der Wind trug ihre Worte über die Wasser wie Gesang.
„Warum aber ist dein Haar so
bleich, Aura?“ fragte Marko weiter, der aus dem Kahn gestiegen war und auf sie
zutrat. -
„Ich habe sein Gold geopfert
und das meines Herzens dazu, alles für dich. Hast du es nicht gewollt?“
„Ich bin dies Opfer nicht
wert, ich, der ich leichtfertig Namen, Schicksal und Liebe einem Wesen der
Tiefe hingab. Nun habe ich keinen Namen und kein Schicksal mehr und mich selbst
habe ich verloren.“
„Gib dich nicht verloren,
Marko“, sagte Aurelia tröstend. In meiner Liebe wirst du dich wiederfinden.“
„Wie kannst du mir von Liebe
sprechen, mir, der ich nur Opfer von dir verlangt und nie etwas für dich getan
habe!“
„Ich fordere keine Opfer“,
lächelte Aurelia voll Innigkeit. „Meine Liebe verlangt nach nichts anderem, als
geben zu dürfen. Daß du nur da bist, dass es dich überhaupt gibt, das ist schon
ein großes Glück für mich.“
„Ich glaubte deine Liebe
verloren“, stammelte Marko beschämt, „verloren wie Namen, Schicksal und
Selbst.“
Da aber leuchtete um Aurelia ein milder, herrlicher
Glanz. „Meine Liebe vergeht nicht. Du kannst sie gar nicht verlieren, denn du
liegst in ihr beschlossen. - Deinen Namen habe ich dir wiedergebracht in meinem
Busen. Er soll nicht erlöschen. Ich will ihn mit dir zusammen tragen und dir
Söhne schenken, die ihn weiterführen und von ihm künden. - Das Kreuz deiner
Mutter aber leuchtet in meiner Seele. Ich will es für dich tragen und dein Schicksal
soll das meine werden. Und da hast du mein Herz voll Liebe, die wird uns beide
tragen auf weichen Schwingen durch ein langes Leben in eine bessere Welt. -
Es ist der große
Gedanke der Natur selbst,
die nur dadurch bestehet,
dass sie sich ewig wieder erneuert
(Wilhelm von
Humboldt: Das inwendige Leben)
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